Zyklokinetik © als Format der chorischen Wahrnehmung

Chor und Wahrnehmung

 

Wahrnehmung im Chor ist eine körperliche Handlung. Sie schließt alle Sinne ein. Das ist im Chor auch immer eine mehrfache geteilte Wahrnehmung, die parallele und gleichzeitige Vorgänge und Eindrücke zu verbinden sucht: die innere Verfasstheit, die Interaktion mit den andren Chormitgliedern, Reaktionen auf die anderen Körper, mit denen man Beziehung steht. Raum, Musik, Lichtverhältnisse. Der periphere Blick und der unscharfe Fokus auf die ganze Gruppe und noch weiter gefasst auf den Raum, in dem die Gruppe sich befindet, ermöglicht diese geteilte Wahrnehmung. Viele Dinge laufen im Chor parallel: die Abstimmung mit Tandempartner*innen und der Gruppe, Wechsel von Rhythmus und Raumebenen, das alles wird wahrgenommen, d.h. heißt aufgenommen, bewertet und in eine Reaktion umgesetzt. Geteilte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit im Chor bewirken vor allem eines: Fokus. Drei Ebenen der Wahrnehmung sind in unserem Zusammenhang wichtig: die Wahrnehmung des eigenen Körpers (Haut, Materialität, Konturen, Sinne, Stimme), die Wahrnehmung von mir selbst in Raum und Zeit, und die Wahrnehmung der anderen um mich herum und mein Reagieren darauf (mein Chorverhalten). Die Ausrichtung meines Fokus auf das, was ich wahrnehme, ist eine bewusste Entscheidung

 

Zyklokinetik © als Format der chorischen Wahrnehmung

 

Zyklokinetik© ist ein vom Rhythmiker und Tänzpädagogen Toni Gruber entwickeltes performatives Training für Gruppen. Ich bin Toni Gruber im Rahmen unserer Arbeit an der Bayerischen Theaterakademie August Everding begegnet und durfte einen Zyklokinetik©-Ablauf mit einer Gruppe von ca. 30 Teilnehmenden miterleben.

 

Zyklokinetik © ist ein zyklischer Bewegungsverlauf. Es werden bestimmte Bewegungsmuster von der Gruppe gelernt: z.B. Schnelles Durcheinanderlaufen im Raum, im Kreis gehen, in slow motion gehen, am Boden liegen und Schütteln. Diese Bewegungsformen (z.B. zwölf) werden in einer festgelegten Reihenfolge gestellt und von der Gruppe mehrmals hintereinander durchgeführt: das bildet einen Zyklus.

 

Diese Übung wird frei laufen gelassen, mit Impulsen der Spielleitung.  Innerhalb dessen gibt es eine Regel, die das individuelle sowie das kollektive Spiel dynamisiert: Jede*r kann jederzeit in seinem Bewegungsmuster bleiben und nicht in das nächste mit einsteigen. Er muss aber, bis der Zyklus wieder bei ihm angekommen ist, in diesem Bewegungsmuster bleiben. Der Zyklus wird desto anspruchsvoller, je mehr Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus dem laufenden Zyklus austeigen und bei ihrer Bewegung bleiben. Es besteht auch die Möglichkeit, in bewegten Phasen des Zyklus für eine Runde auszusteigen. Innerhalb dieser vielen Wechsel entstehen über die Kontaktaufnahme der Spieler*innen untereinander kurze nonverbale Improvisationen. Eine kollektive Situation herrscht vor und gleichzeitig eine durch individuelle Entscheidungen geprägte Dynamik zwischen Nähe, Distanz, Autonomie und Kollektivität. Das innere Erleben und die äußere Bewegung sind in Dialog miteinander. Zykloknetik© wird von Parametern bestimmt: Räumliche Vielfalt (alle Ebenen einbeziehen), Raumformationen (z.B. im Kreis gehen), energetische Zustände von der absoluten Ruhe bis zur Ekstase, nicht von einem Metrum bestimmte Bewegungstempi (rasch, langsam, beschleunigen, verzögern, anhalten), Emotionen.

 

In der Zyklokinetik© erlernen die Teilnehmenden einen festgelegten Ablauf, der sich permanent wiederholt. Sie treffen aber innerhalb dieses Ablaufs individuelle Entscheidungen. Es stellen sich Fragen: welchen Imaginationen folge ich? Entstehen vorgestellte Figuren? Wie verhalte ich mich (zu den anderen)? Als Außenseiter*in, als Anführer*in, als Mitläufer*in? Was erlebe ich meine Entscheidungen? Die Spielleitung achtet darauf, dass der Zyklus aufrecht bleibt und kann an unterschiedlichen Punkten Impulse setzen. Es geht also um ein Format, in dem eine Gruppe eine festgelegte Struktur erlernt, die aber eventuellen Zuschauer*innen verborgen bleibt. Diese Struktur, die als Rahmen die ganze Zeit über bestehen bleibt, bietet dem einzelnen Teilnehmenden eine Individualität im eigenen theatralen Handeln. Zyklokinetik© ist ein Trainingsformat mit Potential zur Performance. Es kann ein Übungsformat für chorische Rundumwahrnehmung, eine Gruppenimprovisation oder ein Performance-Tool sein. Zyklokinetik© kann sowohl im schauspiel- und theater-pädagogischen Bereich, also auch im professionellen Tanz und in der Performance eingesetzt werden.